Istanbul: Städtebericht – Teil 1 – ein Gastbeitrag von Sven



Die Stadt und so …

Bild 1

Zum ersten Mal fiel mir Istanbul als potenzieller Spielplatz für Graffiti- und Streetart-Affine auf, als ich auf Streetfiles.org (I miss U) die Bilder der „Street-Expo“ von Kripoe sah. In meiner Wahrnehmung hatte mein persönlicher Sprüh-Held im Jahr 2009, zusammen mit seinen Dudes der sagenumwobenen CBS-Crew, das Graffiti-Ding am Bosporus erst richtig ins Rollen gebracht. Denn mit einem Schlag hatten sie das ganze Stadtbild gefickt.

Sieht man sich heute die Fotos aus dem Entstehungsjahr 2009 an, fällt einem sofort ins Auge, dass damals fast alle Rollläden und Wände in der Innenstadt einheitlich trist uns langweilig clean aussahen (siehe auch). Geht man jetzt durch die selben Straßen, erlebt man ein komplett anderes Bild. Dort schmiegen sich Burner an Burner und die Fassaden sind teilweise bis in die vierte Reihe (siehe Bild 1) mit anspruchsvollen Werken verziert.

Bild 2

Damals scheint es also einen Big-Bang gegeben zu haben, der bis heute wiederhallt und eine Graffiti- und Streetart-Szene angestoßen hat, die sich qualitativ vor anderen Metropolen nicht verstecken muss. Auffällig ist jedoch immer noch, dass ein großer Teil der Bilder an den prominentesten Spots der Stadt von auswärtigen Graffiti-Touris (siehe Bild 2) gemalt wurde.

Denn nach der Street-Expo sprach sich in der internationalen Szene ziemlich schnell herum, dass Frau und Mann in Istanbul recht easy geile Spots malen können.

Bilder 3 – 5

So zog es in den nächsten Jahren dann auch stetig mehr illustre Namen wie Utha & Ether (vergleiche Bild 1 – wo waren sie eigentlich nicht?), Soten (Bild 3) und viele mehr nach Istanbul. Im Jahr 2014 besuchte mit Merde (Grüße!) (Bild 4) ein weiterer Maler aus deutschen Landen die große Stadt. Dabei hinterließ er einen so bleibenden Eindruck, dass lokale Writer mit denen ich gesprochen habe, immer noch die Knie weich werden, wenn sie über seinen massiven

Output berichten. Zur Verstärkung kam dann auch gleich die halbe VCR-Bande (Bild 5) hinzu und pushte den Graffiti-Film sicherlich gehörig weiter.

Wie viel Spaß man in Istanbul haben kann, zeigt auch der filmische Reisebericht der DFV, LTN, TFE, ABM, EQT, LPS & ATS Crews aus dem Jahr 2015 (siehe auch dieses Video). Dort sieht man, wir sehr sich das Straßenbild in ein paar Jahren geändert hat. Die Gegend, in der im Video gemalt wird, ist die gleiche in der damals Kripoe & Co. mullerten. Die Gegend heißt Beyoglu und ist der zentrale innerstädtische Bezirk auf der europäischen Hälfte der Stadt (Istanbul liegt auf zwei Kontinenten und wird vom Bosporus geteilt). Die Fassaden weiter Teile von Beyoglu sehen heute wie in Friedrichshain oder Kreuzberg aus. Einige Leute sagten mir, dass die Atmosphäre dort ähnlich wie in Barcelona (zu Graffiti-Hochzeiten) ist. Ich war noch nicht in Barcelona, weiß aber, dass zeitgleich mit der künstlerischen Aufwertung Beyoglus auch die Mieten explodierten. Wie in Barcelona eben, oder in Berlin, oder in … na ihr wisst schon.

Wer die Stadt besucht und wenig Zeit hat, sollte sich einmal im Viertel Karakoy nahe der Galata-Brücke umsehen. Dort ist in den letzten Jahren eine riesige (scheinbar) geduldete aber illegale Freiraumgalerie entstanden. Weitere Hotspots findet ihr im Viertel Cihangir und rund um den Galata-Turm.

Bilder 6 – 8

Ein Verkäufer im Donut-Store (bis vor kurzem der EINZIGE Kannenladen in einer Stadt mit etwa 18 Millionen Einwohnern) erzählte mir, dass es seiner Ansicht nach vielleicht zwanzig aktive Maler in der Stadt gibt, die sich regelmäßig über entsolidarisierte Eigentumsrechte und normierte Wertevorstellungen im öffentlichen Raum hinwegsetzen. Das ist zu wenig!

Bilder 9 – 12

So kommt es, dass sich in den von Touris überlaufenen Vierteln von Beyoglu eben vorzugsweise ausländische Maler die Kannen in die Hand geben. Dennoch fällt die überschaubare Istanbuler Writer-Szene heute durch hochqualitativen Shit mit regelmäßigen Output auf, der von local Heros wie Punch (Bild 6), Pair (Bild 7), Hero (Bild 8), Met (Bild 9), Leo (Bild 10), Hure (Bild 11) oder Rash und Rukus (Bild 12) produziert wird.

Die genannten Künstler decken ein weites Spektrum des Stylewriting ab. Vom Seen-mäßigen NYC-Styler, über den Clean-Technik-Nerd, bis zu individuellen Bubble-Letters mit psychedelischen Acidhead-Fill-Ins ist alles dabei. Was es nicht gibt, ist ein „Istanbul-Style“. Das mag daran liegen, dass Graffiti dort so spät angekommen ist, als längst jeder über das Internet individuelle Inspirationen zusammensuchen konnte. Wie alles im Leben hat auch dieser Trend Vor- und Nachteile, aber das jetzt aufzudröseln würde hier den Rahmen sprengen. Mir persönlich gefallen vor allem die Styles von

Bild 13

Murys (Bild 13). Diese/r kombiniert simplen Buchstabenaufbau mit dem oldschooligen Comic-Touch, der an die Formsprache der JBCB (Bild
14) (auch schon in Instanbul gesichtet) erinnert und ergänzt diesen durch naive Illustrationen.

Bild 14

Während sich nach meiner Wahrnehmung in Beyoglu also vor allem das Bombing- und Writervolk austobt, gedeiht in Kadikoy die Streetartszene. Kadikoy ist der zentrale Bezirk auf der asiatischen Seite des Bosporus und hatte bisher das Glück, dass dort nicht allzu viele touristische Highlights liegen. Nun entwickelt sich der Bezirk aber selbst zum Highlight. Denn den Kreativen und Studenten ist es in Beyoglu zu teuer geworden. Und wer heute eine hippe Bar oder eine Galerie eröffnet, tut das vorzugsweise in Kadikoy. Auch hier gibt es Writing, aber eindeutig dominieren Charaktere, graphische Darstellungen und Illustrationen, die mit allen möglichen Materialien und Techniken auf die Fassaden angebracht werden. Wohl durch diesen Hype gefördert, hat in Kadikoy nun auch der zweite Kannenladen dieser Megacity eröffnet, den ich allerdings nie besucht habe und dessen Namen ich vergessen habe.

Bild 15

Die riesigen Murals (Bild 15) die in den kommenden Istanbul-Updates sehen werdet, stehen alle samt dort. Sie sind Teil eines jährlichen Streetart-Festivals, das von der Stadt gesponsert wurde, um die Hood neu zu erfinden. Für wen das nun gut oder schlecht ist, will ich hier nicht weiter ausführen. Es ist einfach. Und mehr Kunst im Straßenraum kann nicht verkehrt sein.

Bild 16

An dieser Stelle will ich auf die Arbeiten von MAX (Bild 16 -Birçok selam!) hinweisen, mit dem ich zusammenarbeiten durfte und dessen Werke in Kodikoy häufig zu sehen sind. Er ist im Grunde Illustrator und greift eher zu Farben, Pinsel und Marker, als zur Dose. Der Typ ist eine dieser
Mensch-Maschinen, die auch unter Zeitdruck wie ein Drucker arbeiten. Seine Charaktere und biomechanischen Whatever-Dinger sind abwechslungsreich und haben einen sehr eigenen Style mit hohem Wiedererkennungswert.

Bild 17

Einen eher ikonischen Ansatz fährt Hands Up (Bild 17). Seine oder ihre gelben Smylies mit erhobenen Händen sind in der ganzen Stadt zu sehen, naturgemäß bei Jung und Alt beliebt und oftmals mit einem sozialkritischen Wink oder einer Anspielung auf den umgebenden Raum versehen (diese Streetart-typische Interaktion mit dem Betrachter und der Umgebung vermisse ich bis auf einige Ausnahmen übrigens schmerzhaft bei meinem Liebling, dem Stylewriting).

Bild 18

Prägend für Kadikoy sind außerdem Cins (Bild 18), der Designs auf die Wände bringt, die mich an Rockabilly-artige Tattoos erinnern und ein Typ, dessen Namen ich nie lesen konnte, aber der stets grotesk verzerrte Fratzen und creepy Charaktere (Bild 19) sprüht.
Kurioser Weise spielt sich die Straßenkunst abseits dieser beiden Hotspots lediglich in Teilen der historischen Altstadt, um die Bar-Meile des Bezirks Besiktas, sowie entlang der oberirdischen U-Bahnlinien und der Autobahnen ab. Ich habe viele Bezirke und Viertel Istanbuls besucht. Sie alle haben ihre eigenen Stadtteilzentren. Doch ich erinnere mich an keine weiteren Orte, in denen ich Graffiti und Streetart in nennenswerten Ausmaße gesehen habe.

Warum das so ist, warum man in den Hotspots so gut malen kann und warum Graffiti in der Türkei als Akt der Rebellion gerade stagniert, probiere ich – garniert mit ein paar eigenen Anekdoten – im zweiten Teil dieses Artikels zu klären.
Viel Spaß mit den Fotos.

Herzlichst
Euer ErklÄrbÄr SvÄn

Dies war Teil 1, die Tage geht es dann weiter mit dem zweiten Teil mit richtig vielen Bildern!

Eine Antwort

  1. Anonym sagt:

    +++ sehr schöner Bericht, danke. Bin auf Teil 2 gespannt

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