Istanbul: Städtebericht – Teil 2 – ein Gastbeitrag von Sven

Weiter geht es mit unserem “Writer-Städtebericht” – am Schluss noch ein guter Stoß an Bildern. Die Tage folgen dann noch 2 reine Fotopostings…Wer den ersten Teil verpasst hat: hier lang.
Besten Dank an dieser Stelle nochmal an Sven für diesen interessanten Artikel!

Sprüherfahrungen aus der großen Stadt

Freunde bunter Verkehrsmittel (ich war nie ein Aktivist) werden vielleicht etwas weniger Freude an meinen Erinnerungen und Anekdoten haben. Sie beschränken sich nämlich ausschließlich auf gutes, altes Straßen-Bombing. Dennoch sei gesagt, dass alles möglich ist, wenn man sich gut vorbereitet. Ihr wisst das besser als ich. Aber aus Erzählungen und Videos im Netz würde ich einschätzen, dass es gemütlichere Reiseorte für euch gibt. Nichts desto trotz … weiter im Text …

Als ich zum ersten Mal vom Atatürk-Flughafen in Istanbul mit einem Bus in die Innenstadt fuhr, empfing mich eines der schönsten Empfangskomitees, die ich mir vorstellen kann. Am frühen Abend bombten eine Hand voll Jungs der ansässigen DSK-Crew relativ entspannt eine Wand direkt neben einer stark befahrenen Straße. Der Verkehr rollte im Schritttempo an ihnen vorbei. Niemand schien Notiz davon zu nehmen oder sich daran zu stoßen. Ich war euphorisiert. Als ich noch am gleichen Abend die massive Graffiti-Präsens rund um den Galata-Turm sah, wähnte ich mich im Paradies. Der erste Eindruck sollte sich zunächst bestätigen, auch wenn ich ihn später relativieren musste.
Am nächsten Tag ging ich mit einem Kumpel los, um Kannen zu besorgen (Billig-Dosen in der Türkei kaufen lohnt sich nicht. Es handelt sich meist um „Wasserfarben“. Klauen ist eine noch dümmere Idee. Der durchschnittliche Einzelhändler hat gerne mal einen Schlagstock unterm Tresen, den er laut Erzählungen türkischer Freunde lieber einsetzt, als die Polizei zu rufen. Und wenn er dich nicht erwischt, bekommen dich seine Freunde auf der Straße, die aus den anliegenden Läden zur Hilfe eilen.). Wie auch immer. Bewaffnet mit Silber und Schwarz aus dem Wasserfarbenladen taggten wir uns erst mal warm. Dabei fiel uns auf, dass es auch mitten in der Nacht keinen Sinn macht, zu warten bis gerade mal Niemand auf der Straße ist. In Downtown-Istanbul ist IMMER irgendjemand in jeder verdammten Gasse oder kommt gleich um die Ecke. Also drauf scheißen. Da sich niemand um unser Tuen kümmerte, gingen wir langsam dazu über, auch auf belebten Straßen Throw-Ups und kleine Bomben zu ziehen, während der jeweils andere davorstand. Kein Problem! Im Gegenteil. Leute die uns bemerkten, kamen erfreut auf uns zu, um uns zu feiern oder einfach ein bisschen zu quatschen.
Zwei Situationen sind mir besonders in Erinnerung geblieben: Einmal malte ich alleine neben einem Späti. Der Besitzer kam raus und freute sich offensichtlich über das neue Bild (die Wand gehörte nicht zu seinem Laden). Während ich weitermalte, unterhielten wir uns auf Englisch entspannt über Dies und Das. Plötzlich kam ein Streifenwagen um die Ecke und blieb direkt hinter uns stehen. Ich malte natürlich – innerlich angespannt – weiter, um keinen Stress zu verbreiten. Mein neuer Freund sprach mit den Bullen auf Türkisch. Ich verstand kein Wort und probierte ihre Stimmlage zu deuten, während ich versuchte möglichst locker weiter zu malen und im Kopf die Fluchtmöglichkeiten durchging. „Das ist ein Graffiti-Künstler aus Deutschland. Die Wand sah echt übel aus. Schaut, wie schön bunt sie jetzt ist.“, sagte er ihnen. Daraufhin freuten sich die Bullen, grüßten mich mit erhobenen Daumen und fuhren ihrer Wege.

Ein zweites Mal sprühten wir zu zweit in einer schmalen Gasse. Alle Geschäfte hatten ihre Rollläden längst unten. Nur eine Bar hatte noch offen, in der bereits die Stühle oben standen und geputzt wurde. Wir entschieden, einfach anzufangen. Nach kurzer Zeit kamen zwei Angestellte aus der Bar: „Was? Ihr kommt aus Deutschland um unsere Straße zu verschönern? Warte, ich rufe einen Freund an. Der mag Graffiti.“. Kurz darauf stellten die Typen einen Stehtisch neben uns auf die Straße und deckten ihn mit einer Flasche Raki und mehreren Gläsern. Wenig später kam der besagte Freund und brachte gleich noch ein paar weitere Freunde mit. Wäre der Tisch nicht schon gedeckt gewesen, hätte die Situation bedrohlich auf mich gewirkt, denn sie umringten uns, um zu sehen, was wir da machen. Dann wurde jedoch erstmal angestoßen und wir brauchten am Ende der kleinen Feier einige Überredungskünste, um diesen Leuten klar zu machen, dass wir leider kein Selfie mit ihnen schießen können. Und auf Facebook sind wir auch nicht!
Ähnliche Stories habe ich auch von anderen Leuten gehört, die in Istanbul gemalt haben.
Für ein paar aufwendigere Bilder in exponierten Lagen ging ich später dazu über, die Besitzer oder zumindest die Mieter der Häuser zu fragen, ob ich da malen durfte. Die Antwort war immer „Ja“.

Ein halbes Jahr später musste ich lernen, dass die geschilderten Erfahrungen natürlich nur einen Ausschnitt der Realitäten in der Istanbuler Gesellschaft wiederspiegeln. Damals verbrachte ich eine längere Zeit in der Stadt. Durch Gespräche mit Einheimischen und eigene Erfahrungen lernte ich, dass Istanbul nicht gleich Istanbul ist. In jedem Bezirk und jedem Viertel wohnt ein anderer Schlag Mensch. Es gibt sehr konservative Quartiere, in denen Fremde schräg angeschaut werden, wenn sie sich nachts alleine auf der Straße herumtreiben, oder in denen das Alkoholtrinken in der Öffentlichkeit verbal oder handgreiflich abgestraft wird. Neben vielen Schattierungen dazwischen gibt es im krassen Kontrast dazu auch Viertel, in denen es Niemanden einen Dreck schert, wenn du nackt und vollgekotzt mit einem Bier in der Hand eine Wand bemalst (hypothetisch 😉). In diesen Vierteln solltest du kreativ werden. Dort wo Nutten und Junkys am Straßenrand stehen, ist es für „normale“ Menschen wie dich und mich am sichersten. Ich selbst habe mich in solchen Gegenden jedenfalls nie unwohl gefühlt. Das mag aber eine Typ-Frage sein.

So lässt sich auch erklären, warum es sich in einigen Bezirken gut und in anderen eher gefährlich malen lässt. Da wo Studenten, Kosmopoliten, Künstler und Partyvolk leben, da gehört Graffiti nach Ansicht der Durchschnittsbevölkerung auch hin. – Sind ja eh alle durch, da. – Aber wer in reinen Wohnquartieren malt, am besten dort, wo beinahe dörfliche Strukturen herrschen, riskiert eine „bamboo stick massage“ von der versammelten „Bürgerwehr“, wie mir ein Istanbuler Writer erzählte. Darüber hinaus liebt der durchschnittliche Istanbuler Ausländer. Zumindest die aus westlichen Industrienationen. Man hat da ein ganz anderes Standing als die Einheimischen. Selbst wenn ein türkischer Künstler viel versierter ist, als man selbst, ist man halt der „artist from Germany“. So bin ich z.B. mit Türken sprühen gegangen, die meinten, dass ich reden soll, falls jemand kommt. Die Passanten würden sonst die Cops rufen. Es ist eine verrückte Welt.
Das bringt mich zum Schlussplädoyer: Geht reisen! Geht raus aus eurer Komfortzone! Trefft andere Menschen! Denkt darüber nach, auch mal wieder in die Türkei zu reisen (aber sprüht da im Moment echt keine politischen Statements, ich sage nur „vier Jahre für Präsidentenbeleidigung“)! Dort leben Leute, die genauso denken wie du. Die deinen Lifestyle fahren. Die deine Hobbys (nicht nur Kunst), deine Werte und Normen teilen. Niemand schadet Erdogan, wenn IHR das Land boykottiert. Wisst ihr wir ihr diesem Drecks-Nazi am tiefsten in den Arsch fickt? Wenn ihr Freunde in der Türkei findet. Wenn ihr mit ihnen redet und euch mit ihnen austauscht. Mittlerweile trauen sich viele Türken nämlich nicht mehr, Probleme im Land mit anderen Türken zu diskutieren. Aber sie müssen darüber reden. Auch wenn es nur darum geht, sich nicht alleine zu fühlen. Und all die Vollidioten? Die brauchen genau wie die Affen hierzulande jemanden, der oder die ihnen vorlebt, wie sich Menschen im 21. Jahrhundert verhalten.

In diesem Sinne
No Borders, no Nations!
Herzlichst
ErklÄrbÄr SvÄn

Eine Antwort

  1. Anonym sagt:

    10ena!!

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