I leave graffiti where you’ve never been kissed – Streetfiles – das Interview

Wer sich nur ein bisschen mit Graffiti und Streetart beschäftigt, stößt im Netz zwangsläufig auf die Website Streetfiles.org.

Mit derzeit über 620.000 Photos und knapp 53.000 Mitgliedern ist Streetfiles DIE Adresse für Graffiti. Die Website ist in der Szene etabliert und wird aktiv genutzt, gleichzeitig aber auch umstritten: gerne wird über Kommentarfunktion, Erleichterung von Strafverfolgung und realem Streetfame und unrealem Internetfame gestritten, leider selten produktiv. 
Wenn Bilder bis zu mehreren 1000 Klicks pro Tag bekommen, ist dies für viele eine verlockende Form von Öffentlichkeit. 20.000 verschiedene Besucher zählt die Seite täglich, 27,5 Millionen Seitenaufrufe im Dezember 2011 und täglich werden ca. 1200 neue Photos hochgeladen.
Esher

Wer wissen will, was in seiner Stadt so los ist, schaut hier rein. Auch vor einem Urlaub kann man sich einen Überblick verschaffen und Kontakt mit Writern vor Ort aufnehmen. Wer sich über Stylepolizisten, Graffitispießer, Maulhelden und Poser amüsieren will, kommt ebenfalls nicht zu kurz.

Esher, einer der Mitbegründer der streetfiles-Idee, stellt sich diesmal unseren Fragen.

Die ersten 20.000 Bilder von Streetfiles habt ihr vom Vorgänger Graffitinet übernommen. Inzwischen sind es ja ein paar mehr geworden. Was sind die Beweggründe für das ganze Projekt und was die Meilensteine der Entwicklung zum globalen Graffitiportal?
Wir verdingen uns tagsüber als Webentwickler. Die Graffitinet Jungs sind damals auf uns zugekommen und haben nach einem Update für ihre Seite gefragt. Wir haben gesehen, dass sie mit ihrer Idee 10 Jahre zu früh waren und das genau jetzt die richtige Zeit dafür ist. Streetfiles liegt zwischen ambitioniertem Hobbyprojekt und Start-Up.
Etwas mehr dazu hier: http://streetfiles.org/page/about/

Auf der Startseite legen die User
fest welche Bilder erscheinen

Unsere These: Streetfiles ist die wichtigste digitale kunstgeschichtliche Dokumentation von Graffiti – auch wenn es vielleicht noch 10-20 Jahre dauert bis das in allen Kunstgeschichtsbüchern vollständig angekommen ist. Seht ihr die Seite auch als Archiv der Szene und wie dokumentiert und sichert ihr die Entwicklung? Wer sein Profil löscht, löscht ja auch die Fotos – oder werden die irgendwo gespeichert?

Für mich persönlich ist Kunst eher so eine art Schimpfwort. Tatsächlich interessieren wir uns natürlich eher für die wenigen anspruchsvollen Sachen — nur gibt es leider wenig solcher Perlen. Es hat sich herausgestellt, dass Streetfiles die globale Jugendkultur dokumentiert. Graffiti ist oft sehr flüchtig, heute hier morgen weg. Das passt perfekt zum Medium internet. Wir nehmen die Bildrechte unsere user natürlich ernst. Wenn jemand seinen Account oder die Fotos daraus löscht, sind sie weg.
Die Startseite ist so etwas wie das Aushängeschild von Streetfiles. Wie kommt es zur Auswahl der Bilder – sind das eure Favoriten?
Die Photos auf der Startseite werden automatisch nach Aktivität der User generiert. Wir haben da kein Mitspracherecht. Wir sind mit der Auswahl nicht immer ganz glücklich. Unsere aktuellen redaktionellen Favoriten kann man hier finden: http://streetfiles.org/photos
Photo-Seite von Streetfiles:
hier legen die Admins die Bildauswahl fest
Mit zunehmender Userzahl stiegen die Beschwerden über abgelehnte Bilder – warum müssen Bilder durch euch freigeschaltet werden? Löscht ihr auch im Nachhinein Bilder?
Ich lehne ca. jedes vierte Photo ab. Vieles ist einfach Crap. Meist ist es die Photoqualität, die zu wünschen übrig lässt. Ein richtig schönes Photo von einem Toy-Piece würden wir durchlassen, aber irgendwie kommen die Sachen immer zusammen. Scheiss Handy Photo, von nem Toy Piece, mit nem Typen der davor rumpost, mit schwarzem Balken vorm Gesicht.
Wir wollen die positiven Aspekte unserer Kultur fördern. Wozu sollen wir denn unsere Festplatten mit so einem Dreck zumüllen? Go out, practice and then come back. Diese Kontrolle ist ganz wichtig und ein wesentlicher Faktor dafür, dass wir nicht in Beliebigkeit abrutschen.
Ja wir löschen auch im Nachhinein, wenn ich z.b. sehe, dass ein andere Admin zu nachsichtig war.
Das sollte man beachten: http://streetfiles.org/page/guidelines/

Writer sind ja mitunter profilneurotische, egozentrische Individualisten, der Umgang in der Szene ist nicht immer zimperlich, wenn es um den eigenen Kiez und den Fame geht. Beim Kommentieren wird es nicht selten sexistisch, homophob oder auch rassistisch. Stört euch das oder gehört es halt auch mit dazu? Müsste Streetfiles mehr moderiert werden, gerade in Hinblick auf das sehr junge Publikum?
Mehr Moderation wäre wünschenswert. Aber das können wir nicht leisten, nichtmal nur für den deutschsprachigen Raum. Streetfiles ist ähnlich wie ein Großteil des Netzes heutzutage offen, frei und halbwegs anonym. Es liegt an den Nutzern, ob sie dieses Ökosystem erhalten oder zerstören.

Apropos Ökosystem: Wie szenefixiert ist Streetfiles – gibt es auch eine Wahrnehmung von streetfiles außerhalb der Szene?
Ja, in Strafermittlungsbehörden-Kreisen. Spass beiseite: Gefühlt sprechen wir in erster Linie Leute an, die etwas mehr “into it” sind, aber ich bin überrascht, wie viele Leute das Projekt wenigstens kennen. Ich find’s schade, dass die Krikel-Krakel-Fraktion meist keinen Wert darauf legt verstanden zu werden. Naja, so isses. Vielleicht nicht schlecht, dass wir etwas unter dem Radar fliegen. Wenn in den klassischen Medien mal wieder gegen Graffiti gehetzt wird, werden wir auch gerne mit erwähnt. (http://streetfiles.org/blog/post/185) Dann hab ich natürlich Angst, von einem Politiker zur Achse des Bösen gezählt zu werden.
Streetfiles dokumentiert Graffiti Art weltweit – den uploads nach zu urteilen müsste Berlin die Welthauptstadt sein. Wie sieht es mit Herkunft der user aus? Und habt ihr anhand der Uploads einen Überblick, wo auch international was geht und ob sich die Szenen in den einzelnen Ländern/Kontinenten unterscheiden?
Berlin ist international die Graffiti-Hauptstadt (Foto von esher)
Die CAF Crew hat es schon 1997 gesagt: »Graffiti goes East«. Die ehemaligen Ostblock-Staaten verwestlichen, die Graffiti-Akne gehört auch dazu. Ich hab da aktuell nicht wirklich den Überblick. Alles fühlt sich etwas “gleichgestellt” an. Das hat sicher mit modernen Medien zu tun. Früher ist jemand nach Amsterdam oder Paris gefahren und hat dort ein paar Graffitis fotografiert. Die Fotos hat er seinen drei Freunden gezeigt. So konnte Stil adaptiert werden.
Streetfiles ist mittlerweile ja mehr als nur ein Bilderbuch der Graffitiszene. Viele User nehmen über Streetfiles Kontakt zu anderen Usern auf. Um neue Kontakte in andere Städte und Länder zu knüpfen und Information zu gewinnnen. Gibt es Überlegungen soziales Netzwerken stärker zu etablieren? 
Der Streetfiles-Kuchen: Herkunft der aktuell
650.000 hochgeladenen Bilder (eigene Darstellung)
Die “sozialen Features” sind immer die spannendsten Sachen. Wir müssen aber mit der Privatsphäre unserer User vorsichtig umgehen. Aus diesem Grund wird es auch keine enge Integration von Facebook oder anderen Datenklauen geben.
Ohne Werbung würde Streetfiles nicht so groß sein können – Werbebanner zieren nun einige Seiten. Der Vorwurf von Kommerzialisierung lässt da bestimmt nicht lange auf sich warten. Wie ist das Echo der User gewesen? Könnt/wollt ihr davon leben?
Es ist unser Traum selber etwas zu schaffen, was uns Spass macht und uns ernährt. Die Banner vom Vermarkter funktionieren relativ gut. Wir wünschen uns aber lieber direkte Unterstützung von relevanten Marken. Leider sind “Montana Colors” die einzigen, die unseren Wert erkannt haben. Ich denke, unsere User wissen, dass wir keine Weltverbesserer sind, aber auch nicht zu doof, die Seite mit Werbung zu vergiften. Ich hab mal einen Blogeintrag (http://streetfiles.org/blog/post/204) gemacht, als wir angefangen haben mehr Werbung zu schalten. Die Reaktionen waren sehr verständnisvoll.

Sicher gibt es nicht nur Unternehmen, die an den Daten der user interessiert sind, sondern natürlich auch die ein oder andere Ermittlungsbehörde. Was wird denn eigentlich gespeichert?
In erster Linie die E-Mail Adresse unsere Benutzer. Wir bekommen so viele Polizeianfragen, dass ich mal eine Standard-Antwort verfasst habe: http://streetfiles.org/blog/post/209

Wie oft werdet ihr denn von Polizei und Staatsanwaltschaft belästigt? Als Kritikpunkt wird ja streetfiles eine Gefährdung von Writern vorgeworfen, weil die offene Kommentarfunktion mitunter auch interne Infos an die Öffentlichkeit dringen lässt. Ist das so gefährlich, wie oft behauptet wird?
Jeden Monat kommt ca. eine Anfrage rein. Wir können unsere Benutzer leider nur schlecht vor ihrer eigenen Dummheit schützen. Alle Kommentare sind zur Sicherheit nur noch für eingeloggte Nutzer sichtbar. Ich hab schon oft genug über das Thema im Blog geschrieben. Wir versuchen so wenig Daten wie nötig zu speichern.
Es gibt auch anonym hochgeladene Bilder. Was muss man denn dafür tun und ist das im Zweifelsfall sicherer?
Einfach mal ausloggen und auf Upload klicken. Ja das wäre sicherer. Aber: Meine Lieblingsfrage dazu: “How can i delete an anonymously uploaded photo?”. Tja, das geht natürlich nicht, eben weil es anonym war.

Bild-Upload der jeweiligen Städte – darunter
mittlerweile 2 Städte aus dem “Osten'”

In einem Blogbeitrag (http://streetfiles.org/blog/post/212) sprecht ihr das an, was euch nicht gefällt und äußert Überlegungen über Veränderungen von streetfiles.

Ein Punkt ist, dass eure Vorlieben sich immer weniger im Geschmack der Nutzerinnen und Nutzer spiegelt. Was willst du denn sehen? Was inspiriert dich noch? Was macht Graffiti für dich aus? Welche Rolle spielt Streetart? 
Was mir gefällt kann man in meinem Profil sehen: “esher likes“. Dass unsere Benutzer andere Vorlieben haben ist im Grunde auch OK, nur irgendwie möchten wir auch nicht zum Hausmeister im eigenen Haus degradiert werden. Wir wissen immer noch nicht ob und wie es weitergeht.
Ist Streetfiles bisher auch im analogen  Raum aktiv gewesen oder wird es in Zukunft Ausstellungen, Jams, Workshops, Magazine etc geben?
Wir haben unsere Foto-Ausstellung “1% Streetfiles” gemacht, die wir in Danzig und in Berlin gezeigt haben. Aktuell haben wir  aber weder Zeit noch große Lust.

Vielen Dank für das Interview!

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